Lügen über meine Mutter

Gewichtige Probleme

Was wir als Kind erleben, können wir erst als Erwachsene wirklich richtig verstehen. Wir brauchen Distanz, Erfahrung und Wissen, um das Geschehene beurteilen zu können. Daniela Dröscher tut das in ihrem Roman, der auf ihren eigenen Kindheitserfahrungen basiert. Im Zentrum stehen die tatsächlichen oder vermeintlichen Gewichtsprobleme ihrer Mutter. Aber eigentlich geht es dabei um so viel mehr: Um Frauen, Gleichstellung, Liebe und Beziehungen.

Vorab gleich das Wichtigste: Dies ist ein großartiger Roman. Daniela Dröscher, geboren 1977, erzählt von ihrer Kindheit in den Achtzigerjahren in einem Dorf im Hunsrück, genau genommen geht es um die Jahre 1983 bis 1986. Zu großen Teilen mag es Dröschers individuelle Geschichte sein, die aber auch exemplarisch ist. Im Mittelpunkt steht ihre Mutter, die ein großes Problem hat: Sie ist zu dick. Was genau zu dick bedeutet, gibt das gängige Frauenbild vor. Und ihr Ehemann. Das Gewicht seiner Frau muss für alles Schlechte herhalten. Dass er, der erste Studierte aus seiner Familie, beruflich nicht vorankommt, führt er ebenso auf die unangemessen üppige Figur seiner Frau zurück wie die Tatsache, dass das Paar in seinem Heimatdorf gesellschaftlich nicht Fuß fasst. Ela bekommt von klein auf mit, wie der Vater die Mutter wegen ihres Essverhaltens rügt, ihr Diäten aufzwingt und sie beständig hänselt. Allmählich übernimmt das Kind unbewusst die Sicht des Vaters und beäugt das Gewicht der Mutter kritisch. Irgendwann glaubt auch sie, ihre Mutter müsse nur schlanker werden, dann sei alles gut. Wie übergewichtig die Mutter tatsächlich ist, bleibt lange vage. Dröscher zeichnet das Bild einer patenten, lebenslustigen und intelligenten Frau, die Opfer wird von gesellschaftlichen Konventionen und einem Mann, der seine Unzulänglichkeiten auf sie abwälzt. Unterbrochen wird die Geschichte immer wieder von kurzen Reflexionen, in denen Dröscher Verhaltensweisen und Geschehnisse aus Erwachsenensicht interpretiert, bewertet oder erklärt. Eine Wahrheit gibt es nicht. Was Dröscher über ihre Mutter schreibt, bezeichnet sie selbst als Lügen – oder anders ausgedrückt: als den Versuch, sich das Vergangene zu erklären.

Daniela Dröscher | Lügen über meine Mutter | Kiepenheuer & Witsch | 24 Euro

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