Liberale Synagoge

Ein Beitrag von Nikolaus Heiss

Anfang Oktober 2003 tauchten bei Aushubarbeiten an der Baustelle des Klinikums Darmstadt in der Darmstädter Innenstadt Mauerreste und Bauteile der ehemaligen Liberalen Synagoge von 1876 auf.

Nach Baustopp wurden bei der systematischen Grabung sämtliche Überreste des historischen Bauwerks freigelegt. Es handelte sich dabei um Kellerwände unterhalb des Vorleseraums, eines Eckturms und der Thoranische, sowie hineingestürzte Bauteile des oberirdischen Bauwerks. Auftretende Befunde wurden präpariert und dokumentiert, Fundstücke geborgen und katalogisiert. Die folgenden restauratorischen Untersuchungen schufen die Grundlagen für die umfangreichen Konservierungsarbeiten. Neben den Erhaltungsmaßnahmen am Mauerwerk, war eine besondere Herausforderung die Konservierung des „Schutthaufens“, einem etwa zwei Quadratmeter großen Ort innerhalb der Ruine, an dem sich bauliche Reste der eingestürzten Synagoge, wie Fußbodenplatten, Dachschiefer, Stahlträger und verkohltes Holz erhalten haben. Dieser Ort in der Nähe der Thoranische, der bei der Freilegung noch Brandgeruch verströmte, ist von besonderer Bedeutung, denn hier dokumentiert sich auf eindringliche Weise die Zerstörung der Synagoge in der Reichspogromnacht 9./10. November 1938.

Die Liberale Synagoge in Darmstadt wurde 1873 bis 1876 errichtet, Fotos: Nikolaus Heiss

Die Baugeschichte

Die ehemalige Liberale Synagoge wurde in den Jahren 1873 bis 1876 nach Plänen des Kreisbaumeisters Eduard Köhler und des späteren Stadtbaumeisters Stephan Braden erbaut. Das Äußere der Synagoge bestand wohl hauptsächlich aus rotem Sandstein und wies im Wesentlichen eine neoromanische Fassadengliederung auf. Dominierendes Architekturelement waren die vier achteckigen Ecktürme, die dem rechteckigen Synagogenbau seine bedeutende auch in die Ferne strahlende Wirkung im Stadtbild verliehen. Die Verwendung von romanischen und frühgotischen Bauelementen sowie Anklänge an maurische Architektur, gaben dem Bau seinen eigenwilligen und eigenständigen Charakter.

Die zerstörte Synagoge im November 1938
Grundriss des Erdgeschosses der Synagoge, der gelb markierte Teil wurde gefunden und in der Erinnerungsstätte erhalten.

Bedeutung für die Denkmalpflege

Ausgrabungen der Fundamente im Jahr 2003

Die Überreste der ehemaligen Liberalen Synagoge stehen unter Denkmalschutz. An ihrer Erhaltung besteht aus verschiedenen geschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse. Wichtig ist die symbolische Bedeutung der Ruine für die Politik-, Sozial-, Gesellschafts- und Religionsgeschichte der Stadt Darmstadt. Sie steht für die Zerstörung der Synagogen Deutschlands in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 durch die Nationalsozialisten; sie steht auch für die Verantwortung der Bevölkerung, die mehrheitlich die Judenverfolgung hinnahm und tatenlos zusah, wie deren Gotteshäuser niedergebrannt wurden. Ein weiterer gewichtiger Gesichtspunkt, der für die Bedeutung des Fundes spricht, ist die Tatsache, dass nach jüdischer Auffassung die Überreste der Synagoge bis zum letzten Stein heilig sind, weil sie nicht von den Juden selbst durch Herausnahme des ewigen Lichtes und der Thorarollen entweiht wurde, sondern weil sie ihnen mit Gewalt genommen wurde.

Der Erinnerungsort

Mit der Erhaltung der Überreste der Liberalen Synagoge und ihrer didaktisch-künstlerischen Präsentation durch Ritula Fränkel und Nicholas Morris innerhalb des Klinikums hat Darmstadt 2009 eine Gedenkstätte geschaffen, in der die Erinnerung an die Reichspogromnacht und den Beginn des Holocaust von höchster Authentizität ist.

Gedenkstätte Liberale Synagoge

Die Gedenkstätte
Öffnungszeiten: sonntags und mittwochs von 11.30 Uhr bis 16 Uhr
Der Zugang zur Gedenkstätte erfolgt ausschließlich über die Bleichstraße und Landsberger-Platz, der barrierefreie Zugang über das Klinikgebäude steht derzeit leider nicht zur Verfügung.
Führungen für Gruppen und Schulklassen sind nur nach Anmeldung möglich. Information und Terminvereinbarung über kulturamt@darmstadt.de
Förderverein Liberale Synagoge: www.liberale-synagoge-darmstadt.de
martin.frenzel@liberale-synagoge-darmstadt.de

Weitere Infos und Führungstermine siehe in unserem Artikel
https://vorhang-auf.com/fuehrungen-in-der-liberalen-synagoge/

Nikolaus Heiss

Der Autor

Nikolaus Heiss war von 1981 bis 2010 Denkmalpfleger der Stadt Darmstadt, ab 2008 zuständig für die Welterbebewerbung der Künstlerkolonie, die nach Zusammenarbeit ab 2014 mit dem Welterbeteam an 24. Juli 2021 zum Erfolg führte.