Das ehemalige Uhrturmgebäude der Technischen Hochschule in Darmstadt

Ein Beitrag von Nikolaus Heiss

Auf dem Gelände der ehemaligen Meierei, östlich des heutigen Kantplatzes, an der Nahtstelle zwischen Martinsviertel und Herrngarten entstanden 1895 die ersten Neubauten der Technischen Hochschule (seit 1997 Universität) in Darmstadt.

Luftaufnahme TUD Innenstadt, 2021 / Foto: Nikolaus Heiss

Heinrich Wagner (1834–1897) war der Architekt des Hauptgebäudes, Erwin Marx (1849–1901) plante die beiden auf der gegenüber liegenden Straßenseite stehenden Institutsbauten für Physik/Elektrotechnik und Chemie. Wegen des stark wachsenden Interesses an diesen Studiengängen musste bald neuer Raum geschaffen werden. So wurde in der Lücke zwischen den beiden Institutsbauten 1904 ein Hörsaaltrakt für Elektrotechnik errichtet, geplant von Friedrich Pützer.

Pützer gelang eine harmonische Verknüpfung der beiden Bauten vor allem durch die Verwendung der gleichen Materialien: rote Ziegel für die Wände, gelber Sandstein für Rahmungen, Gurte und Zierelemente, sowie roter Sandstein im Sockelgeschoss. Durch den weit vor die Fassaden gezogenen Mittelturm mit breiter Freitreppe in der Achse des Hauptgebäudes schuf Pützer eine architektonische Dominante und durch die Höhe ein Gegengewicht als Antwort auf den mächtigen Wagner’schen Baukörper mit seinem beherrschenden Mittelrisalit (ein vorspringender Baukörper) gegenüber. Indem er den beiden Institutsbauten eine neue, alles überragende Mitte gab, überspielte er außerdem deren architektonische Asymmetrien. Neun Jahre nach den ersten Bauten war ein Stilwandel eingetreten, der sich in einigen teils vom Historismus teils vom Jugendstil beeinflussten Formelementen zeigt. Dies gilt vor allem für den Turmaufsatz, der sich mit seiner üppigen Steinmetzarbeit an historischen Vorbildern orientiert, sie dabei aber neu interpretiert. Jugendstilornamentik verwandte Pützer hauptsächlich bei den schmiedeeisernen Balkongittern und Toren im Außenbereich sowie bei den Treppengeländern, Wandlampen und dem Terrazzo-/Mosaikfußboden im Eingangsbereich.

Der 33 Meter hohe Turm barg als technisches Merkmal im kupfernen Turmhelm einen starken Scheinwerfer und diente als Signalstation für drahtlose Telegrafie. Mit vergoldeten Zahlen und Zeigern gestalterisch besonders aufwendig waren die drei elektrisch betriebenen und geregelten Uhren, schrieb das Darmstädter Tagblatt 1904.

In der Brandnacht vom 11. auf den 12. September 1944 wurden der Turm und die Institutsbauten schwer beschädigt. Die Gebäude brannten aus, standen aber noch. Der Turm blieb ebenfalls in seiner Hauptsubstanz erhalten, sogar der steinerne Aufsatz mit den drei Uhren wurde nur leicht beschädigt. Lediglich die Blecheindeckung der darüber befindlichen Turmhaube wurde zerstört, die Stahlunterkonstruktion dagegen blieb erhalten. Ab 1952 wurde jedoch bis auf den Turmstumpf alles abgetragen. Die Institutsbauten erhielten als Aufstockung ein einfaches Mezzaningeschoss. Rekonstruktionsüberlegungen für den Turm in den 1980er-Jahren wurden seitens der Landesdenkmalpflege mangels genauer Pläne für nicht realisierbar erachtet.

Pützerturm vor der Zerstörung
Nach der Zerstörung 1944 / Fotos: Stadtarchiv

Einen neuen Turmaufsatz erhielt der Turm im Jahre 2019. Die TU Darmstadt entschied sich gegen eine Wiederherstellung des ursprünglichen Turms und wählte den Entwurf des Architekturbüros Sicha & Walter aus Fulda, der einen 2,80 Meter hohen, nachts beleuchteten, oben offenen Aufsatz aus Stahl und Glas vorsah. Wie 1904 wurde auch jetzt wieder eine technische Besonderheit eingeplant, nämlich ein fernsteuerbares Observatorium mit vier Teleskopen, deren Bilder direkt in den darunter befindlichen Erasmus-Kittler-Hörsaal übertragen werden können.

Der Autor
Nikolaus Heiss war von 1981 bis 2010 Denkmalpfleger der Wissenschaftsstadt Darmstadt, ab 2008 zuständig für die Welterbebewerbung der Künstlerkolonie, die nach Zusammenarbeit ab 2014 mit dem Welterbeteam am 24. Juli 2021 zum Erfolg führte.