Interview mit Dr. Marie-Luise Wolff
Rettung vor der „urbanen Wüste“?
Dr. Marie-Luise Wolff ist den interessierten Bürgerinnen und Bürgern bekannt als Vorstandsvorsitzende des Darmstädter Ökoenergiedienstleisters ENTEGA. Kaum einer weiß, dass sie auch zwei äußerst interessante Bücher geschrieben hat. Dazu zwei sehr unterschiedliche. Ein Roman, „Die Unbeirrbare“, über Nicole Clicquot-Ponsardin, die „Grande Dame des Champagner“ * und „Die Anbetung“, eine kompetente Kritik über die Entwicklung der Digitalisierung. VORHANG AUF wollte vor allem die Autorin Marie-Luise Wolff ein wenig näher kennenlernen.
VORHANG AUF: Frau Wolff, woher stammen Sie?
Marie-Luise Wolff: Ich bin im Rheinland groß geworden, bin also ein Kind des damaligen Kohlereviers. Mein Großvater war Werksleiter einer Steinkohlezeche, insofern bin ich mit dem Thema Kohle bzw. Energie aufgewachsen.
Mein Vater war allerdings Uhrmachermeister. Er betrieb zwei Geschäfte und verkaufte Schmuck und Uhren, die er auch reparierte. Mit dem Handwerk und mittelständischem Unternehmertum hatte ich schon damals Kontakt, denn wir Kinder haben mitgeholfen: Reparaturen sortiert, Wechselgeld geholt, Papier eingekauft oder da unterstützt, wo wir gebraucht wurden. Dadurch kenne ich die Abläufe in Unternehmen.
Wie kam es zum Studium der Musikwissenschaften und der Anglistik?
Zu jener Zeit, ich bin 1958 geboren, gab es nur wenige Frauen, die man sich zum Vorbild nehmen konnte, meistens waren es Lehrerinnen. Das kann man mit heute nicht vergleichen. Also studierte ich Anglistik und Musikwissenschaft mit dem Ziel, Lehrerin zu werden. Später habe ich dann in den USA noch Wirtschaft draufgesattelt.
Und wie kamen Sie dann zu Bayer?
Das war ein glücklicher Zufall. Gerade zurück aus den USA suchte die Bayer AG eine Person, die sich mit den aktuellen gesellschaftlichen Vorgängen in den USA auskannte. So wurde ich eingestellt.
Und wie kam es dann jetzt 2020 zum Bücherschreiben?
Wenn Sie sich meine Bücher distanziert anschauen, geht es in beiden um echtes Unternehmertum. Das erste Buch – Die Anbetung – habe ich nach einer Reise mit Ministerpräsident Bouffier ins Silicon-Valley geschrieben. Wir fuhren da hin wie eine Fan-Gruppe, um dann zu erfahren, wie es wirklich ist.
Sie wissen, es ist ein sehr kritisches Buch. Ich weiß um die immensen Chancen der aktuellen Dynamik, die wir nutzen müssen, aber nicht grenzenlos. Es ist Zeit, die Gefahr von Firmen zu überdenken, die Digitalmonopole geworden sind. Moderne Monopolisten wie Apple, Amazon, Facebook oder Google haben eine enorme Macht über ihre Nutzerinnen und Nutzer erreicht. Der Algorithmus weiß alles.
Und das Buch über die Veuve Clicquot?
Bei der „Unbeirrbaren“ geht es um eine Frau, die Unternehmerin in einer Zeit war, in der man dies noch nicht mal gedacht hat. Sie wurde Vorbild für viele, allerdings in Deutschland erst mit Verzögerung. Das Frauenbild in der Nachkriegszeit war ganz anders geprägt. Da ich schon seit vielen Jahren über Nicole Clicquot-Ponsardin gelesen habe, dachte ich, schreib doch endlich mal die abenteuerliche Geschichte auf.
Wie kam es denn zu der Doktorarbeit über Sinclair Lewis?
In meiner Doktorarbeit geht es um die Frage, gibt es einen Unterschied zwischen literarischer und nicht literarischer Sprache, literarischem und nichtliterarischem Schreiben und worin besteht er. Und natürlich gibt es jede Menge Unterschiede. Diese herauszuarbeiten, hat mir Spaß gemacht. Deswegen schreibe ich heute auch auf sehr unterschiedliche Arten, im Bewusstsein, dass man sich auf unterschiedliche Art und Weise mitteilen kann.
Was war und was ist denn nun so spannend bei einem Versorger?
Das ist ein spannendes Geschäft mit vielen Facetten. Nehmen Sie den Strom – der ist flüchtig, lässt sich nicht speichern und muss immer im richtigen Moment vorhanden sein. Ohne die Netze und ihre Steuerung würde es nicht gehen – eine physikalische Meisterleistung. Es ist also ein existenzielles Produkt, unerlässlich für Menschen wie die Unternehmen. Das erfordert eine spezielle Unternehmenskultur und Ernsthaftigkeit.
Anders bei SONY. Als ich SONY verlassen habe, kam gerade die Playstation auf den Markt – wie der Name schon sagt, ein Gerät zum Spielen. Das hat mich nicht länger interessiert.
Nochmal zurück zu Ihrem Buch „Die Anbetung“ mit der massiven Kritik an der Digitalisierung. Was ist da das Ursächliche, was schiefgelaufen ist?
Ich habe ja nichts gegen die Digitalisierung. Sie muss in jedem Unternehmen sein. Das heißt aber, ich setze es als Instrument für die Verbesserung von Prozessen ein.
Bei den Geschäftsmodellen von vielen Konzernen im Silicon-Valley geht es nicht um die Verbesserung von Prozessen, sondern Social-Media-Konzerne nutzen Big-Data, um Werbung zu verkaufen. Das ist das Geschäftsmodell und daran hat sich auch nichts geändert.
Google hat Jahrzehnte lang behauptet, sie arbeiten an ganz vielen tollen Dingen. Aber es ist immer noch ein Werbekonzern, der eben abhängig von Werbung ist, genauso Facebook. Amazon ist zwar ein Logistikkonzern, aber trotzdem stark abhängig von Werbung. Kaum gehen nach Corona die Werbeeinnahmen zurück, sofort werden Zehntausende entlassen.
Wir haben es also mit Trend- und Modekonzernen zu tun, die auf Werbung beruhen. Das ist das eine.
Das andere ist, dass wir an einer Figur wie Elon Musk sehen, dass durch diesen ganzen Hype Menschen in Führungspositionen gelangen, die sich moralisch für das, was sie tun, gar nicht mehr rechtfertigen müssen. Was würden wir machen, wenn morgen Herr Zuckerberg sagen würde: „Ich habe keine Lust mehr. Ich verkaufe das jetzt mal an Herrn Bolsonaro.“ Diese Konzerne haben eigentlich eine enorme Verantwortung übernommen.
Dabei wurden Prozesse in Gang gesetzt, die nicht mehr kontrollierbar sind. Und das dann noch in einer Monopolsituation. Eine verschärfte Monopolsituation durch Konzerne, die in kurzer Zeit ohne Regeln hochgezogen wurden, bei denen man im Grunde gar nicht mehr einschreiten kann.
Führt die Monopolisierung auf diesen Plattformen „mit destruktiver Wucht“, wie Sie schreiben, zum „urban wasteland“, in die urbane Wüste?
Ich sehe viele Dinge, die nicht gut sind. Zum Beispiel lese ich, dass Pädophilie zugenommen hat. Das hat natürlich mit Social Media zu tun. Wir lesen über Vereinsamung in der Bevölkerung. Vereine veröden. Der Rückzug ins Private hat stark zugenommen. Einzelhandel, Gastronomie haben auch damit zu kämpfen. Das alles hat meines Erachtens sehr viel mit Social Media zu tun.
Auf der anderen Seite sehe ich auch „Rettendes“. Ich habe neulich Alexander Kluge gelesen. Er glaubt, dass wir uns wieder dem richtigen Leben zuwenden. Man könnte alles auch ein bisschen als Modewelle verstehen, die ja auch schnell vergeht.
Also, ich bin nicht ganz abgeneigt, Alexander Kluge zu folgen, wenn er sagt: „Es könnte sein, dass es langweilig wird, nur noch auf ein Handy zu starren.“
Dann lese ich aber Anderes bei Jaron Lanier, den ich ja oft in meinem Buch zitiere. Der Begründer von „virtual reality“, der sich heute ganz davon abwendet, sieht die extreme Gefahr einer noch größeren Vereinsamung. Ich hoffe immer noch auf die Verlangweilung.
Das Interview führte VORHANG AUF Chefredakteur Giuseppe Pippo Russo.
- Die Buchbesprechung zu „Die Unbeirrbare“ stand in der Dezember-Januar-Ausgabe 2023 auf Seite 47 des VORHANG AUF Magazins. Die Buchbesprechung zu „Die Anbetung“ stand in der März-Ausgabe 2023 auf Seite 12 des VORHANG AUF Magazins.