Die Zeit mit Gernot ist vergiftet. Er wird wiederkommen, ihr seine Nähe und das damit verbundene Glück schenken, er wird aber wieder gehen, Tag für Tag. Lena wird darauf reagieren. Ihre innere Waage wird ausschlagen, von der einen zur anderen Seite, immerzu. Das will sie nicht. Das kann sie nicht ertragen.
Lena denkt nach. Sie geht in sich und findet eine Lösung. Gernot ist ihre einzige und wahren Liebe. Das weiß sie mit jeder Faser ihres Daseins. Was wäre aber, wenn er verschwinden würde?
Ja, das wäre die Rettung. Lena könnte ihr Leben lang an Gernot festhalten und müsste ihn nicht ständig loslassen, wenn er andere Aufgaben vorgab, als sie in seinen Armen zu wiegen. Sie könnte an der Erinnerung und an der damit verbundenen Traurigkeit, Gernot niemals mehr in die blaugrünen Augen schauen zu können, versinken. Dieses Gefühl hätte Bestand. Sie könnte Jedem darüber berichten und Jeder würde sie verstehen und sie bedauern. Einen Menschen in so jungen Jahren zu verlieren ist wirklich tragisch und würde endlos nachwirken.
Ja, Gernots Verschwinden wäre die Lösung. Die Idee ist genial und genial ist ebenfalls: Gernot ist ein begnadeter Turmkranführer. Derzeit arbeitet er auf einer Baustelle in Darmstadt Ost. Er liebt seinen Beruf, besteigt jeden Morgen aufs Neue die vierzig Meter bis zu seinem Arbeitsplatz, verbringt dort seine Mittagspause und steigt erst wieder zum Feierabend ab. Morgens trinkt er eine kleine Kanne Kaffee und geniest dazu sein belegtes Brötchen. Nachmittags nimmt er einen Tee und ein süßes Plunderteilchen zu sich.
Lena erträgt zwei Arbeitswochen mit Gernot, dann ist alles notwendige vorbereitet. Die K.O.- Tropfen im Tee erfüllen Lenas sehnsuchtsvollen Wunsch. Gernot strauchelt beim Abstieg seines Turmkranes, stürzt in die Tiefe und bricht sich sein Genick. Lena kann fortan Schwarz tragen, ihr Gesichtsausdruck versteinern lassen und in Traurigkeit und Trägheit versinken. Sie arbeitet viel, verbringt die Wochenenden allein und ohne ein Wort zu verlieren.
Alles ist prächtig. Alles ist im Gleichklang. Alles ist gut, bis sie eines mittags, gegen all ihre Gewohnheiten, nicht ihr mitgebrachtes Brot verzehrt, sondern die Kantine besucht. Es gibt Rippchen mit Kraut. Dem kann sie nicht widerstehen. An der Kasse wird sie angestoßen. Verärgert dreht sie ihren Kopf und starrt in die blaugrünen Augen eines neuen Mitarbeiters.
Sofort regt sich etwas in ihrem Bauch und sie denkt: Oh Gott, oh Gott.
Doch sie weiß, was zu tun ist.