„Hallo Elfi“, begann er, als seine Schwester abgenommen hatte, „stell dir vor, ich bin gerade in Darmstadt, habe eine Pizza im Gepäck und will dich besuchen.“
„Lars, du?“
„Ja, bin auf er Durchreise, komme gerade von einem Kongress. Ich störe doch nicht, oder?“
Lars wusste, dass Elfriede sehr zurückgezogen lebte, der Verlust ihres langjährigen Lebensgefährten hatte sie vor einigen Monaten dermaßen aus der Bahn geworfen, dass sie therapeutischen Hilfe benötigte und auch medikamentös eingestellt worden war.
„Nein, du störst nicht“, hörte er Elfriedes leise Stimme.
„Toll, ich bin in zwei Minuten bei dir. Die Pizza ist noch heiß. Für dich eine Hälfte mit Sardellen.“
Lars berührte das Display, steckte das Smartphone in die Tasche und holte das kleine Glasfläschchen hervor. Geschickt öffnete er die Pizzabox und beträufelte die Sandellenseite ausgiebig mit den K.O.-Tropfen. Dann schloss er den Karton, die Pizza sollte nicht kalt werden. Seine Schwester wohnte um die Ecke, in einer kleinen Mietwohnung in der Magdalenenstrasse.
Nach dem ersten Klingeln wurde ihm geöffnet. Er musste die Treppen zum ersten Obergeschoss besteigen. Zuvor legte er den Pizzakarton auf die dritte Treppenstufe von unten und entfernte mit ein paar Handbewegungen seinen Bart, die Hornbrille, die Perücke und die Schirmmütze. Dann zog er dünne weißen Stoffhandschuhe über, schnappte die Pizza und machte sich auf den Weg nach oben. Elfriede stand in der geöffneten Tür. Lars hielt ihr den Pizzakarton entgegen, als wäre er ein riesiger Blumenstrauß. Lustlos nahm ihn seine Schwester entgegen. „Was willst du?“
„Ich habe nachgedacht. Ich will mich mir dir versöhnen.“ Ein gewinnbringendes Lächeln hing auf seinem Gesicht, als er an ihr vorbei in die Küche stolzierte, zwei Teller aus dem Schrank holte und auf dem Küchentisch platzierte. „Du magst doch Sardellen, oder?“
„Das glaube ich jetzt nicht.“
Lars holte Messer und Gabel aus der Schublade.
„Hast du Wein im Kühlschrank?“
Lars wusste, dass seine Schwester gerne und regelmäßig trank. Ohne auf die Antwort zu warten, öffnete er den Kühlschrank und fand tatsächlich eine Flasche Weißwein. „Komm, lass uns die Pizza genießen, dann erzähle ich dir von meinem Plan.“
Elfriede blickte auf die Hände ihres Bruders. „Ist deine Neurodermitis wieder ausgebrochen?“
„Ja, der Stress. Anscheinend belastet mich der Streit mit dir mehr als ich zugeben möchte.“
„Willst du mich etwa doch auszahlen?“, fragte Elfriede überrascht.
„Warte ab“, erwiderte Lars vielversprechend und setzte sich. Aufmunternd nahm er das Besteck und hielt es seiner Schwester entgegen. Mit einem Stirnrunzeln nahm sie die Aufforderung an, teilte die Pizza und schob die Hälfte mit den Sardellen auf ihren Teller.
Die Pizza war schnell gegessen, der Wein getrunken. Elfriedes Stimme klang plötzlich verwaschen, ihre Bewegungen waren fahrig. Lars wusste, es war soweit. Er holte die Schlaftabletten aus seiner Hosentasche und löste die Tabletten aus der Verpackung. Kurz darauf flößte er ihr das Schlafmittel Stück für Stück mit den restlichen Wein ein. Er tat es solange bis der Inhalt der gesamten Packung in Elfriedes Rachen verschwunden war.
Anschließend verwischte er alle Spuren seines Besuches, stellte die leere Weinflasche zum restlichen Altglas im Besenschrank, spülte sein Glas und das Besteck, als auch das Geschirr sorgfältig ab und platzierte den handgeschriebenen Abschiedsbrief neben den Kopf seiner Schwester, der nun schon seit geraumer Zeit auf dem Küchentisch lag. Für den Abschiedsbrief hatte er sich große Mühe gegeben. Immer wieder hatte er Elfriedes Briefe gelesen, die sie ihm geschickt hatte. Elfriede schrieb gerne Briefe, meist sehr ausführliche und sie hatte eine besondere Handschrift, mit vielen Bögen und auch einigen Zacken. Er hatte lange gebraucht, um ihre Handschrift zu kopieren, aber es war ihm irgendwann prächtig gelungen, wie er selbst meinte. Nun lag der Brief neben seiner Schwester und es war geschafft. Der Rest war ein Kinderspiel. Er machte sich auf die Suche nach den Psychopharmaka, die sie verschrieben bekommen hat, fand sie und verteilte sie auf dem Küchentisch. Gewissenhaft legte er seine Verkleidung an, nahm die leere Pizzaschachtel und wollte gerade die Wohnung verlassen, als er hörte, wie sich jemand an der Wohnungstür zu schaffen machte. Ein Schlüsselbund klimperte und ein Schlüssel kratzte am Schloss.
Das kann doch nicht sein, dachte Lars erschrocken, blickte sich hektisch um, sah die mit Mäntel behangene Garderobe und versteckte sich hinter einem grauen Trenchcoat. Nur seine Füße schauten heraus. Seine Gedanken vollführten hektische Spiralen.
Warum trägt meine Schwester einen Trenchcoat?
Irgendetwas ist hier faul.
Wenn ich erwischt werde, dann kann ich meinen genialen Plan vergessen.
Wenn ich den Eindringlich überwältige und töte, dann muss ich eine Leiche entsorgen und hinterlasse garantiert irgendwelche Spuren. So ein Mist, so ein verdammter Mist!
Lars fühlte sich, als würde ihn all seine Kraft verlassen. Am liebsten wäre es ihm gewesen, der Boden hätte sich genau in diesem Moment geöffnet und ihn mit Haut und Haar verschluckt. Ohne ein Geräusch zu machen, lugte er hinter dem Stoff des Mantels hervor und wartete atemlos.
Der Schlüssel schabte am Schloss, irgendwie unbeholfen. Die Tür der Nachbarwohnung wurde geöffnet. Eine keifende Frauenstimme war zu hören. „Fred! Biste wieder so besoffen, dass du deine Wohnung nicht findest?“
Ein schwerverständliches Genuschel war die Antwort.
Die Frauenstimme wurde ruhiger und klang plötzlich so sanft wie Seide: „Komm´, ich bring dich hoch. Dann kannst du dich erst mal ausschlafen.“
Lars atmete hörbar und tief durch. Ein hysterische Lachen drang aus seiner Kehle. Beschwingt verließ er sein Garderobenversteck. Er lauschte solange an der Wohnungstür, bis er hörte, dass die Nachbarin ihre Wohnung betreten hatte und die Tür ins Schloss fiel. Gerade als er die Wohnung seiner Schwester verlassen wollte, fiel ihm ein, was er vergessen hatte. Er machte sich auf die Suche und fand Elisabeths Smartphone. Erleichtert steckte er es in seine Tasche. Darauf waren die Daten seines Anrufs aufgezeichnet, den er vor einiger Zeit mit seiner Schwester geführt hatte. Das hätte ihm zum Verhängnis werden können, denn das wäre der Beweis gewesen, dass er sich in Darmstadt aufgehalten hatte.
Mit einem Lächeln auf den Lippen und der Gewissheit, einen perfekten Mord begangen zu haben, ging er zur Wohnungstür, streckte vorsichtig seinen Kopf in das Treppenhaus. Als er saß, dass die Luft rein war, schlich er sich nach draußen ohne Licht zu machen. Den Weg zum Bahnhof genoss er. Die Luft war frisch und kühl. Er erreichte den Abendzug nach Hamburg und stieg ein. In knapp sieben Stunden würde er Zuhause sein und alles wäre gut. Schon kurz später war er eingeschlafen.
Am nächsten Morgen pünktlich um 6:51 Uhr kam er in Hamburg an. Sein Fahrrad stand noch an dem Platz, an dem er es am Tag zuvor angeschlossen hatte. Zuhause angekommen machte er sich ein gutes Frühstück. Um 10.00 Uhr klingelte der Postbote und übergab ihm einen Einschreibebrief. Lars öffnete und fand eine Einladung zur Testamentseröffnung. Er hatte nicht gewusst, dass sein Vater ein Testament gemacht hatte.
Tags darauf fand er sich beim Notar ein.
Ihm wurde das Testament vorgelesen und mehr und mehr wich die Farbe aus seinem Gesicht. Der Notar verkündete: Liebe Elfriede, lieber Lars, wenn ihr das hier hört, bin ich bei Eurer Mutter und habe endlich meinen Frieden gefunden. Ihr wisst, meine Frau und ich, haben immer darunter gelitten, dass ihr beiden so zerstritten seid. Deswegen haben wir uns folgendes überlegt. Euer Elternhaus ist groß genug für zwei. Wenn ihr dort zusammen lebt, übergeben wir euch das Haus und ihr werdet beide ins Grundbuch eingetragen. Ebenso bestimme ich dies für mein Wertfach bei der Sparkasse. Dort ist Gold im Wert von rund einer halben Million EURO eingelagert. Ihr bekommt das Gold nur dann, wenn ihr gemeinsam das Wertfach öffnet.
Falls sich einer von euch beiden weigert, gemeinsam das Haus mit Leben zu füllen oder wenn einer bis zur Vollstreckung meines Testamentes versterben sollte, vermache ich Haus und Gold dem Diakonischen Werk in der Königstraße.“
Als Lars intervenierte, sagte der Notar kurz angebunden: „Kommen Sie gemeinsam mit ihrer Schwester zu mir. Sie haben eine Woche Zeit. Wenn nicht, wird alles der Diakonie übergeben.“
Geknickt schlich Lars nach Hause. Vor der Tür wartete ein Polizeiauto. Sofort wurde er von einem Beamten angesprochen: „Sind sie Lars Beil?“
Lars nickte genervt.
„Ihre Schwester wurde ihrer Darmstädter Wohnung tot aufgefunden.“
Erzählen Sie mir was Neues, wollte er sagen, hielt sich aber gerade noch zurück.
„Sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, geschrieben auf altem Briefpapier. Auf der Rückseite ist der Name Lars Beil und dessen Hamburger Adresse aufgedruckt. Können Sie uns das erklären?“