„Natürlich, ich meine natürlich ihre Kluft. Kommen Sie rein, Ihr Zimmer ist gerichtet. Zum Frühstückt gibt es eine große Käse- und Wurstplatte. Sie können ein Ei haben, wenn Sie mögen“, hörte Wigbert die Worte und sah, wie die gebrechliche Gestalte etwas zur Seite trat und ihm den Weg freimachte. Wäre er seinem Gefühl gefolgt, hätte er eine Entschuldigung vor sich hin genuschelt und wäre gegangen, ganz schnell und hektisch, hinein in die dunkle kalte Nacht. So aber blieb er stehen, vielleicht eine Sekunde zu lang. Die Dame schnappte seine Hand. „Die ist ja eiskalt!“, bemerkte sie mitfühlend, „Kommen Sie, im Kamin lodert das Feuer.“
Wigbert fand keine Widerworte.
„Ich zeige Ihnen ihr Zimmer. Es liegt im ersten Stock.“ Sie ließ seine Hand los und ging voran. „Schließen Sie die Tür“, hörte er noch und gehorchte auch diesmal.
„Hier ist es. Eine Wärmflasche habe ich unter die Bettdecke gelegt, damit sie sich etwas aufwärmen können.“ Ihr knochiger Zeigefinger zeigte in das kleine gemütlich eingerichtete Zimmer. „Schauen Sie sich erst einmal um und legen ihren Rucksack ab.“ Sie ging zur Tür und fügte hinzu: „Ich muss Sie bitten, vor dem Zubettgehen nach unten zu kommen. Sie müssen sich in das Gästebuch eintragen.“
Wigbert schloss die Tür. Er fühlte sich wohl.
Mein erstes Gefühl muss falsch gewesen sein, dachte er lächelnd und befreite sich von seinem Rucksack, seiner Jacke und dem Wanderstab. Ein kleiner Anlauf genügte und er landete wie ein Hochspringer mit dem Rücken auf dem Bett. Es war weich und fühlte sich kuschelig an. Sofort spürte Wigbert die Müdigkeit, die sich schon seit Stunden in ihm aufgebaut hatte. Am liebsten wäre er unter die Decke gekrochen und hätte sich sofort auf den Weg in sein Traumland begeben, aber sein Pflichtbewusstsein hinderte ihn daran. Er musste sich noch ins Gästebuch eintragen. Also stand er auf und machte sich auf den Weg nach unten.
Das kleine Wohnzimmer war gemütlich. Der alte Dackel lag noch immer zusammengerollt vor dem Kamin. Wigbert wollte sich weiter umschauen, als er hinter sich ein Klimpern hörte.
„Ich habe uns einen Tee gemacht. Nehmen Sie Platz. Ich schenke Ihnen ein. Dann hole ich das Gästebuch.“ Die Alte stellte das Tablett auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa und verließ das Zimmer. Kaum später kam sie bewaffnet mit einem zerschlissen Buch zurück. Wigbert hatte sich gerade erst gesetzt. Die Alte reicht ihm einen Stift und schenkte dampfenden rotbraunen Tee in die antik wirkende Tasse. Wigbert öffnete das Buch, blätterte und stutzte. „Hier stehen ja nur zwei Namen.“
„Ich vermiete noch nicht solange.“
„Die beiden Eintragungen sind vom letzten Jahr.“
„Das stimmt, ich suche mir meine Mieter genau aus. Sie müssen wissen, ich vermiete nicht an Jeden.“
Wigbert nahm eine Schluck. Der Tee schmeckte köstlich süß. Er nahm den Stift in seine Hand, las und überlegte laut: „Jan Claasen. Der Name sagt mir was.“
Die Alte antwortete sofort: „Ach ja, Jan war auf der Walz genauso wie Sie gerade. Trinken Sie erst einmal die Tasse aus, damit es Ihnen warm wird.“
Wigbert gehorchte und plapperte vor sich hin: „Dieser Jan Claasen? Da habe ich doch im letzten Jahr etwas in der Zeitung gelesen. War das nicht dieser Typ, der …?“
„Ach, was die Zeitungen alles so schreiben. Der Tee scheint zu schmecken. Ich schenke Ihnen nochmals nach.“
Wigberts Blick wurde zurück auf den Namen gezogen. „Jan Claasen hat sich gar nicht ausgetragen.“
„Natürlich nicht, er wohnt noch hier, oben unter dem Dach. Er lebt sehr zurückgezogen. Er hat schon lange nicht mehr das Haus verlassen.“
„Hat er … hat er etwa seine Walz beendet?“ Wigberts Gedanken flossen zäh. Schon wusste er nicht mehr, was seine letzte Frage gewesen war. Träge blickte er sich in dem Wohnzimmer um. Ihm war es warm. Das Feuer knisterte im Kamin und eine bleierne Schwere kroch in ihm empor. Erst jetzt fiel ihm die Dohle auf. Der schwarze Vogel saß rechts von ihm auf einem Ast, der an der Wand befestigt war und blickte ihn mit toten Augen an. „Ist die … ist die Dohle ausgestopft?“, fragte Wigbert langsam und nach langer Zeit des Nachdenkens.
„Natürlich“, kam die schnelle Antwort. „Ich bin ausgebildete Präparatorin. Sie müssen wissen, das ist eine echte Handwerkskunst.“ Die Alte hatte sich nach vorne gebeugt und streichelte den Dackel, der starr vor dem Kamin lag. „Sie müssen wissen, ich stopfe all meine Lieblinge aus.“
Wigbert spürte Panik in sich aufsteigen. Er sammelte all seine Kraft, sprang auf, kam aber nur zwei Schritte weit, dann knickten seine Knie ein und er fiel in ein riesiges schwarzes Loch.