Eine lange Odyssee vom „Dschungelkind“
„Ich schwimm nicht mehr da, wo die Krokodile sind“
Buch-Tipp von Giuseppe „Pippo“ Russo
Es wirkt, wie „ein Wink des Schicksals“, an das ich als leidlich vernunftbegabter Jetztzeitgenosse natürlich nicht glaube, dass ich gerade das Werk „Anfänge“ – Eine neue Geschichte der Menschheit“ von dem Anthropologen David Graeber und dem Archäologen David Wengrow lese und mir just der Titel „Menschen der Steinzeit“ aus meinem Abo der Spiegel-Geschichte Reihe zugesandt wurde, wo ich an einer Besprechung des Buches „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“ von Sabine Kuegler sitze.
Sie war das Mädchen, dass von ihrem fünften bis zum 17 Lebensjahr im Busch von Neu-Guinea mit ihren Forscher-Eltern unter „Wilden“ aufwuchs und uns in ihrem Buch „Dschungelkind“ (2005) die Welt der indigenen Fayu erschloss. Daraus wurde 2011 sogar ein vielbeachteter Film.
Im Jahre 2012, nach mehr als zwei Jahrzehnten in unserer westlichen Zivilisation – mittlerweile als vierfache Mutter – erkrankte sie schwer. Sie galt als austherapiert, wurde von den Ärzten aufgegeben. Da sah sie als letzte Chance zur möglichen Heilung nur noch die Rückkehr in den Dschungel, um bei der Medizin der Naturvölker Hilfe zu finden.
Nach einem fast fünfjährigen Leidensweg ist die Heilung bei einem Schamanen, der das richtige Hilfsmittel zusammenbraute, gelungen. Diese wirren fünf Jahre, das beschwerliche Herumirren im Dschungel Westneuguineas und am Rande der Südsee, erzählt sie nun in „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“.
Ich bin erschlagen, von dieser Odyssee, von den Orten, von der Erzählbreite und den Emotionen. Gleichzeitig kann ich mich nicht entscheiden, wie ich das Buch bewerten soll. Es gibt Ungereimtheiten, vielleicht als Folge der immer wieder aufflammenden Krankheit, vielleicht, weil ich als Stadtmensch im 21. Jahrhundert vieles nicht richtig verstehen kann. So schreibt sie: „Der Unterschied ist, dass die Kultur im Dschungel mehr mit der Gemeinschaft zu tun hat. Man hat keine Identität, man ist Teil einer Gruppe, man hat keine Privatsphäre, weil man nur als Gruppe überleben kann. Im Westen hat das Überleben damit zu tun, dass man eine Identität haben muss, dass man Privatsphäre hat, dass man auch viel mehr Freiheiten hat, aber dafür ist man nicht so geschützt wie im Urwald. Also eigentlich genau das Gegenteil“
Sie schreibt aber auch: „Das Einzige, was mich vorangetrieben hat, war, dass ich meinen Kindern versprochen habe, ich komme wieder. … Daran habe ich mich festgehalten, über die Grenze hinaus, was ein Mensch eigentlich aushalten kann. Das war ja jahrelanges durch den Urwald Laufen, im Urwald schlafen, in Hütten schlafen. Und dann noch krank zu sein.“
Und dabei stellte ich mir beim Lesen die Frage: Warum erwähnt sie ab dem Abtauchen in den Dschungel kein einziges Mal ein Gespräch mit den Kindern – das Mobil-Telefon funktionierte auf einigen Etappen? Erst im Epilog werden die Kinder wieder erwähnt. Ist das Abtauchen in die Welt der teils vollkommen abgeschotteten Indigenen so sehr ein vollkommenes Ausschalten aus unserer Welt des Westens des 21 Jahrhunderts?
Ich bin verunsichert, habe aber viel gelernt in diesem Buch, im oben erwähnten Band „Anfänge“ über Indigene und im neuen Spiegel-Geschichte Magazin, weiß jetzt viel mehr über Stammesmenschen und auch über unsere Vorfahren und über das außergewöhnliche Leben von Sabine Kuegler.
Trotz meiner Unsicherheit: Lest das Buch, es ist weit mehr als die Geschichte einer Kranken, die in die Urwald-Welt ihrer Kindheit zurückkehrt. Es stößt Gedanken an über uns selbst, die wir so selbstsicher in unserer so perfektionierten Moderne leben.
Sabine Kuegler | „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“ | Westend Verlag | 298 Seiten | ISBN 978-3-86489-427-5 | 24 Euro (UVP)