Richtig hinschauen

Mit Buch aufs Sofa
Wissen Sie, was usselig bedeutet? Das Wort kommt aus dem Rheinischen und meint soviel wie nasskaltes, ungemütliches Wetter. Davon bekommen wir jetzt vermutlich etwas mehr ab. Wie schön! Denn dann können wir uns mit gutem Gewissen und einem ebensolchen Buch aufs Sofa verkrümeln und losschmökern. Leseempfehlungen für gemütliche Novembertage gibt es hier.

Was ist schön, was ist hässlich? Wie betrachten wir andere und was sehen wir? Diesen Fragen stellt sich die türkische Bestsellerautorin Elif Shafak in ihrem Roman, der in ihrer Heimat bereits 1999 erschien. Es ist ein fantasievolles Geschichtensammelsurium aus mehreren Jahrhunderten.

Zugegeben: Leicht macht Shafak es ihren Lesern nicht. Durch mehrere Jahrhunderte und unzählige Schicksale muss man sich arbeiten. Mal schweift die Autorin ins Absurd-Phantastische ab, dann erzählt sie wie aus Tausendundeiner Nacht, dann wieder sehr gegenwärtig. Die Rahmenhandlung bildet eine seltsame Liebesgeschichte in Istanbul 1999: die zwischen einer unglaublich dicken Frau und einem ungewöhnlich kleinen Mann. Beide sind sonderbare Gestalten, den Blicken anderer ausgesetzt und gebeutelt von deren Urteilen über ihr Aussehen. Die Frau hadert mit ihrem gewaltigen Gewicht, möchte am liebsten unsichtbar sein, verkriecht sich schamerfüllt. Der Mann dagegen fühlt sich erst sichtbar, wenn andere ihn anschauen und sucht förmlich nach Publikum. Gemeinsam lebt das Paar in einer kleinen Wohnung, wo die Frau zwischen Fressanfällen und Diät sich vereinsamt, während der Mann an einem „Lexikon der Blicke“ arbeitet, in dem er alphabetisch auflistet, wie Sehen und Gesehenwerden unser Leben bestimmt. Eingewoben in diese skurrile Geschichte sind Erzählungen aus anderen Jahrhunderten, wie die eines Pelzjägers in Sibirien, der einen wilden Jungen, der halb Mensch, halb Zobel zu sein scheint, an einen russischen Militärgouverneur verkauft, und die eines reichen Türken mit einem erschreckend konturenlosen Gesicht, der in einem Zelt die schönsten und hässlichsten Menschen zur Schau stellt. Immer geht es darum, was wir sehen, wenn wir andere betrachten und wie wir Aussehen bewerten. Man muss sich einfinden in Shafaks Roman, dann wird man in den Bann gezogen von der überbordenden Fabulierkunst.

Elif Shafak: Schau mich an, Kein & Aber, 24 €