Rekonstruktion eines Verbrechens I

Stöbern wieder erlaubt!
Für viele war es eine gute Nachricht in diesen düsteren Zeiten: Die Buchläden dürften im März wieder öffnen. Endlich wieder in den Auslagen stöbern, Bücher anlesen, darin rumblättern und Neues entdecken, herrlich! Es geht doch nichts über einen persönlichen Besuch im Buchladen – hoffentlich finden Sie da auch diese beiden Bücher. Denn die sind ungemein gut!

Autobiografischer Krimi? Sachbuch in Romanform? Thriller mit Familengeschichte(n)? Ein spannender Aspekt an diesem außergewöhnlichen Buch ist, dass es vieles und ungemein gehaltvoll ist. Es geht um den Mord an einem Jungen 1992, um Missbrauch und Gewalt, um Verbrechen und Schuld.

Alles beginnt mit einem Praktikum: Das absolviert die Jurastudentin Alex Marzano-Lesnevich 2003 in einer Kanzlei, die zum Tode verurteilte Mörder verteidigt. Der pädophile Ricky Langley ist einer davon, sein Fall spektakulär: 1992 tötet er den sechsjährigen Jeremy, einen Jungen aus seiner Nachbarschaft, den der damals 27-Jährige flüchtig kennt und der zufällig sein Opfer wird. Als die Tat entdeckt wird, ist Ricky sofort vollumfänglich geständig, im ersten Prozess wird er zum Tode verurteilt. Marzano-Lesnevich, eigentlich strikte Gegnerin der Todesstrafe, befasst sich während ihres Praktikums mit dem Fall. Und wird dabei mit extremen Gefühlen konfrontiert. Denn Rickys Geschichte ist die eines Mannes, der einen schweren Start ins Leben hatte und selbst Opfer ist – eines, das nach Hilfe suchte, diese aber nie fand. Die Autorin sichtet alles zu dem Fall, wälzt sich durch Dokumente, Unterlagen und Videos und schreibt chronologisch auf, wie es zum Mord kam, wie der Prozess lief, welche Schicksale dahinterstehen. Parallel dazu erkundet sie ihre eigene Familiengeschichte und das, was sie selbst zum Opfer machte: den jahrelangen Missbrauch durch ihren Großvater und das Schweigen darüber in ihrer eigenen Familie. In zwei Erzählsträngen nähert sie sich den Fakten, die sie interpretiert und ergänzt mit Varianten der Wahrheit. Das wird zu einem ungemein intensiven Porträt von Menschen, die Opfer sind, aber auch Täter werden. Schreibend fühlt sich Marzano-Lesnevich in sie ein, lotet die Grenzen von Verständnis aus und nähert sich vorsichtig dem, was wir als Wahrheit betrachten. Das ist erschütternd, aber zugleich so behutsam und respektvoll erzählt, dass es hervorsticht und extrem bewegt.

Alex Marzano-Lesnevich: Verbrechen und Wahrheit. ars vivendi, 23 Euro

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