Matthias Berthold ATMEN

Donnerstag, 5. Mai 2022 11 Uhr:
Presserundgang in Anwesenheit des Künstlers Matthias Berthold
Treffpunkt: Buxbaum Kiosk, Kantplatz Darmstadt

Samstag, 7. Mai 2022 15:30 Uhr
Vernissage in Anwesenheit des Künstlers Matthias Berthold, Dr. Manfred Efinger (Kanzler der TU Darmstadt) und Julia Reichelt. M.A. (Leiterin des Kunstforums der TU Darmstadt) am Buxbaum-Kiosk, Kantplatz Darmstadt

Mit Matthias Berthold ATMEN ist das Kunstforum der TU Darmstadt erneut künstlerisch im öffentlichen Stadtraum aktiv. Der Titel ATMEN bezieht sich auf eine seiner rund vierzig »Handlungsanweisungen«, die innerhalb des Aktionszeitraumes im Stadtgebiet zu finden sind. Matthias Berthold (*1964 in Lübeck, lebt und arbeitet in Hamburg) widmet sich seit 2005 in zahlreichen Projekten der Kunst im öffentlichen Raum. Grundlegend für seine Aktionen ist die intensive Beschäftigung mit der Wirkung von Sprache und dem geschriebenen Wort.

»Selbsterforschung ist mein Antrieb« (Matthias Berthold)

Der Titel ATMEN ist paradox: Jemand zu etwas aufzufordern, was er sowieso tut. So verordnet ein Schild, sich einmal rein auf das Wesentliche zu konzentrieren – zu »atmen«. Mehr als vierzig solcher »Anweisungen« werden im Stadtgebiet zu entdecken sein. Sie sind Teil der Kunstaktionen des Hamburger Künstlers Matthias Berthold (1964 in Lübeck, lebt und arbeitet in Hamburg). Sie laden ein zum Experimentieren und Erfahrungen sammeln, zum Entdecken von Freiräumen. Schilder sind im öffentlichen Raum omnipräsent mit ihren Aufforderungen oder Verboten. Dies konterkariert Berthold in seinen Instruktionen, die wie herkömmliche Straßenschilder wirken und die er seit zwanzig Jahren entwickelt. Sie animieren zu Selbstversuchen und zu scheinbar unsinnigem Handeln.

Am Anfang stand die persönliche Erfahrung: Ohne Grund drei Mal rechts abbiegen, den Alltag verlassen, wo komme ich da hin? Auf einem belebten Platz eine Stunde lang still stehen oder einen gekochten Spaghetti auf einen Stadtplan werfen und die Strecke ablaufen. Das erinnert an Fluxus und die Happenings der 60er Jahre, die so vehement Kunst und Alltag verbinden wollten wie nie zuvor. »Leben ist Kunst«, sagt der deutsche Bildhauer und Maler Wolf Vostell (1932–1998). Yoko Ono (*1933) hat 1955 mit ihrem »Lightning piece« die erste Anweisung geschaffen: »Zünde ein Streichholz an und warte, dass es ausgeht.«

Matthias Berthold geht weiter, indem er mit seinen Instruktionen in den öffentlichen Raum geht, nachdem er 1998 zunächst seine Anweisungen »auf Rezept« in einem Krankenhaus in Hamburg anwendet, wo er einen Handel anbietet. Um die Anweisung zu bekommen, muss unterschrieben werden, sie tatsächlich auszuführen. »Den Schlüsselbund von einer Brücke ins Wasser werfen« etwa oder »Trag Dein Haus Stück für Stück ab und bringe jedes Material an seinen Ursprungsort zurück«. Gedruckt auf Krankenhausutensilien, klingt das wie die willkürlichen Imperative einer Monopolyspiel-Ereigniskarte (»Gehe in das Gefängnis. Begib Dich direkt dorthin. Gehe nicht über Los. Ziehe keine viertausend Mark ein«). Bereits hier findet sich bei Berthold die Idee des Loslassens, des Sich-Trennens von einem zweckgerichteten Handeln. Fast alle der 21 Handlungen auf Rezept wurden unterschrieben.

Seit 2005 dient ihm die Stadt und das Alltagsleben als Spielraum. Wie die Situationisten, der radikalsten Avantgarde-Gruppen des 20. Jahrhunderts, die den Schreibtisch, das Atelier, das Museum verlassen und direkt in die Gesellschaft hineinwirken wollten. »Ne travaillez jamais« (Arbeitet niemals) sprühte 1953 der damals 22-jährige Schriftsteller und Philosoph Guy Debord (1931–1994) an eine Pariser Häuserwand. Die Losung wurde ein Kernsatz der Situationisten. Provokativ und aufrührerisch.

Die einzeiligen politischen Botschaften (»Truismen«, dt. Binsenweisheiten) die die amerikanische Konzeptkünstlerin Jenny Holzer (1950) seit den 1970er Jahren im öffentlichen Raum verbreitet, betreffen ebenfalls gesellschaftliche Themen und Probleme, allen voran das Wesen der Macht. Auf Plakaten oder »Give aways«, auf Gebäude projiziert oder fortlaufend auf kommerziellen Anzeigetafeln, wie in ihrer berühmten Aktion auf dem Times Square in New York 1982, als ob es sich um
harmlose Werbeslogans handelt. »Protect Me from what I want« ist zu lesen, »abuse of power comes as no surprise« oder »Romantic love was invented to manipulate women«.

»Worte sind wirksam«, sagt Matthias Berthold, »daher bin ich vorsichtig, es kommt nicht auf drastische Mittel an.« Bei ihm klingt es so: »Etwas beginnen, ohne zu wissen, was es ist.« oder »Fragen stellen, auf die es keine Antworten gibt«. Etwas Befreiendes auslösen, was nicht vorhersehbar und situativ ist, darum geht es. Kunst entsteht im Kopf des Betrachters, sagt der amerikanische Konzeptkünstler Lawrence Weiner (1942–2021) in seiner »Declaration of Intend« 1968. Sie existiert unabhängig von ihrer Realisierung, allein als schöpferische Idee. Sie spielt sich vor allem in der Imagination oder in der konkreten Handlung, im Selbstexperimentieren ab. Weiner schreibt Wörter und Sätze auf Wänden im öffentlichen Raum als verrätselte Botschaften. Sie lassen uns anders auf die Umgebung schauen und zeigen, wie Sprache das Sichtbare verwandelt.

»Für mich ist ein Kunstwerk etwas Immaterielles.« (Matthias Berthold). Sprache kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu. Sie kann einladend sein und Freiräume öffnen. »Sie kann Vorstellungen sprengen und an den Schrauben drehen, dass es lockerer wird.« Dies geschieht durch seine Anweisungen, die zu tieferer Verbundenheit mit der Natur und allen Organismen, zum Entschleunigen mit allen Sinnen anregen. »Nichts erwarten« heißt es beispielsweise auf einem der Schilder oder »Sich vom Wind durch die Landschaft führen lassen, immer dem Wind entgegen laufen«, »Einem Baum beim Wachsen zuschauen«, »Mit den Wolken wandern« oder Auf die Weite konzentrieren«.

Jeder Organismus ist wichtig »Einem Pilz ein Kompliment machen», »Einer Ameise ein Gedicht vortragen». Sie geben Weite und engen nicht ein, wie dies gemeinhin Anweisungen zu tun pflegen. Sie stellen unser Denken auf den Kopf. Sie sind nicht logisch und setzen innere Prozesse in Gang »Erinnern Sie sich daran, was Sie mit sechzehn wollten«, »Folgen Sie einer plötzlichen Eingebung«. Die Imperative und Negierungen sind aus den Anweisungen von Matthias Berthold verschwunden – bis auf eine: »Nicht über das Wetter reden«.

Die Wirksamkeit und die Möglichkeiten von Wörtern findet sich auch in seinem rund zehn Meter hohen Fassadenkunstwerk der neuen Energiezentrale auf der Lichtwiese in Darmstadt (»Wortfeld«, 2019). Es besteht aus 39 Beziehungswörtern, die beim Betrachten Assoziationen auslösen ohne diese greifbar machen zu können. Sie schweben auf der Fläche, leicht und luftig, von ihrer Syntax befreit »weil«, »falls«, »eher« oder »teils«. »Es sind Anfänge von Bedeutungen, die letztlich aber offen bleiben.« (Matthias Berthold) Ein Spiel um Sinnsuche und Sinnfindung entsteht. Ein zweites »Wortfeld«, besser »Buchstabenfeld« ist auf einer der Fahnen am Alten Hauptgebäude der TU Darmstadt zu finden. Aus einem Wort ist ein Bild geworden. Der weiße Untergrund nimmt mehr Raum ein als die Buchstaben. Die Fläche wirkt schwerelos und lässt die Buchstaben atmen. Sie sind aus der Reihenfolge und linearen Anordnung befreit, treten stärker als grafische Form hervor. Eine Fahne für die Freiheit. Die Betrachterinnen müssen aktiv werden um das Wort zu entziffern, so wie Freiheit aktiv erarbeitet, eingefordert und erkämpft wird. Freiheit ist fragil, wie die lose Anordnung der einzelnen Buchstaben.

Sprache als Schlüssel zu imaginären Welten

Konkret »handhabbar« werden Bertholds Texte durch die Glückskekse, die Teil der Kunstaktionen sind und die extra produziert werden. Sie sind »Kunstwerk» und Werbung zugleich. Im Inneren dieses kleinen knusprigen Gebäcks, dass aus asiatischen Restaurants bekannt ist, verbirgt sich ein kleiner Zettel, wie eine Verheißung. Anders als bei den Schildern im öffentlichen Raum, die weithin sichtbar ihren festen Standort und eine vermeintliche Autorität haben, sind die Glückskekse kleine, persönliche Überraschungen. Glück und Zufall spielen eine Rolle, welcher Text wohl gezogen – und welche Anweisung zu befolgen ist.

Vita Matthias Berthold

Matthias Berthold ist 1964 in Lübeck geboren, er lebt und wirkt in Hamburg. Studiert ein paar Semester Ethnologie und visuelle Kommunikation, dann Illustration an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg und experimentiert mit einer eigenen Währung. Er macht Erfindungen wie das Tageszeitenhaus, die Dunkelbirne oder das Universalgerät, das ihm einen Förderpreis der Robert Bosch GmbH einbringt. Alles, was außerhalb des »white cube« passiert, was nicht als Kunst deklariert und bewacht werden muss, interessiert ihn. Es folgen Gastaufenthalte in Irland und Island. Seit 2005 liegt der Fokus auf Kunst im öffentlichen Raum. Eine chronologische Vita gibt es unter: www.matthiasberthold.de

Ein umfangreiches Rahmenprogramm ist Teil der Kunstaktionen von Matthias Berthold, so zum Beispiel seine experimentellen »Windwanderungen« oder die partizipative Aufführung des Konzerts »In C« von Terry Riley, ein Klassiker der Minimal Musik, das auf einem Notenfeld basiert, eine Kooperation mit dem Sinfonieorchester der TU Darmstadt. Die Ausstellung »Matthias Berthold ATMEN« ist die nunmehr dritte künstlerische Intervention des TU Kunstforums im öffentlichen Raum. Erstmals wird neben den Parks und Grünflächen der Stadt auch der Botanische Garten der TU Darmstadt integriert.

Weitere Informationen unter tu-darmstadt.de/kunstforum.