
Auf den ersten Blick erscheint die rosarote Brille als etwas Positives: Sie signalisiert eine Haltung, die zum Optimismus tendiert und (auf Kosten der Wahrheit) bei Problemen die Minderung der Spannungen verspricht. Forschende Soziologen behaupten sogar, es gäbe gar keine reale Wahrheit, sondern nur Interpretationen.

Wir Menschen haben die Möglichkeit, neben betont nüchterner Sachlichkeit Ereignisse eher optimistisch (rosarot) oder auch pessimistisch (schwarz) zu bewerten. Durch diese Wahlmöglichkeit geraten wir gelegentlich in den Bereich der Täuschung: Die Psychologie zeigt anhand von einfachen Bildern, wie leicht wir auf dem Gebiet der optischen Wahrnehmung manipulierbar sind.
Noch häufiger lauert die Manipulationsgefahr im Bereich der Sprache. Als Grundlage der Kommunikation gilt das Sender- Empfänger-Modell, wobei der Empfänger stets zwischen den Verständnisebenen auswählt. Zum Beispiel „Machs Radio leiser“ kann als befehlartiger Appell, als freundlicher Hinweis oder als Ausdruck von Stress interpretiert werden.
Leicht fallen wir auf die Schönfärbung der Sprache herein. Je nach Absicht eines Kommunalpolitikers nennt er sein Vorhaben „Müllkippe“ oder „Entsorgungspark“. Gegen gefärbte Formulierungen im Wahlkampf sind wir wohl alle mehr oder weniger immun.
Das Einfügen oder Anpassen in eine Gesellschaft bezeichnet man als Sozialisation. So entsteht unser Bild von der Welt. Die Sozialisation verengt unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten. Ob wir die rosarote Brille aufsetzen oder nicht, lässt auch die Möglichkeit offen, dass wir uns selbst manipulieren, wenn wir uns einen Vorteil versprechen.. Die rosarote Brille ist also auch eine Form der (Selbst-) Manipulation. Die Forscher sind sich noch uneinig, ob wir dabei eine persönliche moralische Verantwortung haben oder unser egoistisches Unterbewusstsein die Entscheidung trifft.
Die Menschen (wie übrigens auch die Staaten, Parteien und Konzerne) sind einander nicht nur Freund, sondern Konkurrenten, Gegner oder sogar Feinde. Fast täglich kommt es zu Auseinandersetzungen wegen unterschiedlichen Interessen in der Welt. Ohne die Benutzung der rosaroten Brille wäre der gesamte diplomatische „Verkehr“ undenkbar.
Solange ökonomische Belange und Interessen unser gesellschaftliches Leben weitgehend bestimmen, ist es ratsam, Manipulationen als solche zu erkennen und die eigenen Lebensverhältnisse rosig zu tönen, wo es moralisch keine Bauchschmerzen verursacht.
Walter Schwebel