Begeistert und bodenständig – Torsten Lieberknecht

Als Spieler war er viele Jahre nur für Vereine im Südwesten aktiv. Seine Karriere beendet er bei Eintracht Braunschweig, wo er anschließend rund ein Jahrzehnt als Trainer arbeitete. Nun soll Torsten Lieberknecht den SV Darmstadt 98 kontinuierlich weiterentwickeln.

Eineinhalb Stunden Training bei praller Sonne und brütender Hitze und danach noch eine Medienrunde. Auf die Einstiegsfrage, wie die erste Einheit mit der Mannschaft gewesen sei, fragt Torsten Lieberknecht grinsend zurück: „Wollt Ihr Floskeln hören?“ Und dann erzählt er ganz offen und ungezwungen über die ersten Eindrücke von der Mannschaft, die Baustellen im Kader und wie er bei einem seiner ersten Ausflüge in die Darmstädter City für einen Schiedsrichter gehalten wurde, weil er Trillerpfeife und Stoppuhr für das Auftakttraining kaufte.

Noch ist der Coach, der am 1. August 48 Jahre alt wird, in Darmstadt nicht so bekannt. Aber das könnte sich ändern, wenn er bei den Lilien ähnlich nachhaltig und erfolgreich arbeitet wie den größten Teil seiner Zeit bei Eintracht Braunschweig. Dort hatte der gebürtige Pfälzer nicht nur seine Profikarriere beendet, sondern auch seine Trainerkarriere begonnen. Rund zehn Jahre war er als Coach dort im Amt, führte die Niedersachsen mit beschränkten Mitteln bis in die Bundesliga.

Bei Lieberknechts Amtsantritt in Darmstadt fehlte der Mannschaft die komplette Mittelachse: In der Innenverteidigung und im defensiven Mittelfeld müssen die Abgänge von Victor Palsson (FC Schalke 04) und den beiden Leihgaben Nicolai Rapp (Union Berlin) und Lukas Mai (Bayern München) kompensiert werden. Im Sturm wird ein Ersatz für Torschützenkönig Serdar Dursun (Fenerbahce Istanbul) benötigt.

Zwei große Unterschiede zum Vorgänger „Ich arrangiere mich immer mit den Gegebenheiten vor Ort“, sagt Lieberknecht. „Manchmal muss man eben auch ein bisschen warten.“ Die Geschichte habe gezeigt, dass die Lilien Abgänge gut kompensieren konnten. Hier unterscheidet sich Lieberknecht deutlich von seinem Vorgänger Markus Anfang, bei dem häufig seine Unzufriedenheit über die begrenzten finanziellen Mittel am Böllenfalltor durchkam.

Und noch in einem anderen Punkt gibt es einen wesentlichen Unterschied: „Ich sehe den SV Darmstadt 98 nicht als Sprungbrett für irgendetwas. Meine Haltung und Wertevorstellung sind, dass ich die Verträge, die ich unterschreibe, auch immer erfüllen will“, sagte Lieberknecht bei seiner Vorstellung. Wenn er in Darmstadt wie in Braunschweig zehn Jahre bleiben würde, wäre das nach seinen Worten fantastisch: „Dann wissen wir, dass es höchstwahrscheinlich erfolgreich war.“

Zu schnell nach Darmstadt

Was Lieberknecht auszeichnet, ist seine Begeisterungsfähigkeit und seine komplette Identifikation mit seinem Arbeitgeber. „Ich war noch nie so schnell an einem Arbeitsplatz wie hier. Ich bin mit vollem Enthusiasmus nach Darmstadt gefahren“, sagt er und räumt ein, dass er dabei zweimal in eine Radarkontrolle gekommen sei. „Aber alles noch im Rahmen“, beschwichtigt er.

Die Chance, einen ambitionierten Zweitligisten zu übernehmen, habe ihn sofort gepackt. „Ich will authentisch vermitteln, dass ich dafür brenne, für diesen Verein an der Seitenlinie zu stehen. Für mich ist es wichtig, darauf aufzubauen, was hier in den letzten Spielzeiten war, ohne eine Kopie von jemandem zu sein. Alles umzustülpen wäre der falsche Ansatz.“

Bei seinen Spielern legt er neben den spielerischen Fähigkeiten auch viel Wert auf Charakter. Seinen Stil als Trainer bezeichnet er als ebenso familiär wie professionell. „Ich bin jemand, der für seine Mannschaft durchs Feuer geht. Aber ich kann auch eine andere Art an den Tag legen, wenn ich bei Spielern das Gefühl habe, dass sie permanent angeschoben werden müssen.“

„Es gibt Dellen im Lebenslauf“

Zur Vita des Trainers Lieberknecht zählen aber nicht nur Erfolge. Mit Braunschweig rutschte er 2018 am letzten Spieltag noch unter den Strich und der Verein stieg in die 3. Liga ab. Damit endet die Ära Lieberknecht bei der Eintracht. Auch mit dem MSV Duisburg konnte er den Drittliga-Abstieg nicht verhindern. Im Jahr darauf verpasste die Mannschaft knapp die Rückkehr in die 2. Liga. Nach einem schwachen Saisonstart wurde er dort im vergangenen Herbst freigestellt.

„Ich habe mich reflektiert und einiges aufgearbeitet“, sagt er über die Zeit ohne Engagement. Er habe viele Fortbildungen im Internet gemacht und sich schließlich auch mit der Arbeitsagentur herumschlagen müssen. „Es gibt Dellen im Lebenslauf. Aber das treibt mich umso mehr an zu zeigen, dass ich eine Mannschaft Richtung Aufstiegskampf führen konnte.“

Foto: Florian Ulrich

„Ich sauge einen Club direkt auf“

Lieberknecht weiß, dass er am Ende daran gemessen wird, ob die Mannschaft attraktiv spielt und gewinnt. „Aber es ist auch wichtig, dass man eine Identifikation aufbaut zu den Menschen, den Fans, zur Stadt Darmstadt. Das heißt auch, dass man sich zeigt, und kein Trainer ist, der nicht anfassbar ist. Es ist wichtig zu wissen, dass man den Verein nicht nur sportlich repräsentiert, sondern auch neben dem Platz – mit Bodenständigkeit und Nähe. Das verdienen die Anhänger eines Vereins. Ich sauge einen Club direkt auf, eine Stadt, die Fans, die Schwingungen – nur so habe ich Energie und brenne auch für die Sache.“

Dass die Verbindung mit Darmstadt durchaus harmonisches Potenzial hat, zeigt auch seine Verbundenheit zur Stadionhymne „Die Sonne scheint“, wie er unumwunden zugibt: „Ich habe auch eine romantische Ader. Wenn man so ein Lied mitsingt, weiß man, dass es einem gefällt. Ich bin tatsächlich ein Fan der Darmstadt-Hymne.“

Vita

Foto: Florian Ulrich

Torsten Lieberknecht (* 1. August 1973 in Bad Dürkheim) spielte ab 1990 in der Jugend des 1. FC Kaiserslautern, mit der er 1992 A-Jugend-Meister wurde.
Als Profi wurde er mit dem FCK 1994 deutscher Vizemeister. In der Saison 1994/95 war er in der 2. Liga für den SV Waldhof Mannheim aktiv, danach wechselte er zum 1. FSV Mainz 05, für den er sieben Jahre spielte. Nach einem Jahr beim 1. FC Saarbrücken stand er von 2003 bis zu seinem Karriereende 2007 bei Eintracht Braunschweig unter Vertrag.
Ab der Saison 2007/08 arbeitete Lieberknecht als Nachwuchs-Koordinator und A-Jugend-Trainer in Braunschweig. Kurz vor Saisonende übernahm er die erste Mannschaft und schaffte noch die Qualifikation zur neugegründeten 3. Liga.
2011 stieg Braunschweig in die 2. Liga auf, 2013 in Bundesliga, wo man sich aber nur ein Jahr hielt. Mit dem Zweitligaabstieg 2018 endete nach zehn Jahren die Ära Lieberknecht bei den Niedersachsen.
Am 1. Oktober 2018 wurde Lieberknecht neuer Trainer des Zweitliga-Schlusslichts MSV Duisburg. Den Klassenerhalt schaffte er nicht, blieb aber und verpasste in der kommenden Spielzeit die Rückkehr in die 2. Liga nur knapp. Nach einem schwachen Start in die Folgesaison wurde er im November 2020 jedoch beurlaubt.
Seit dem 8. Juni 2021 ist er Cheftrainer beim SV Darmstadt 98.